
Vortrag Anna Junge „Wiedersehen nach der Shoah: Nachbarschaft im Landkreis Marburg 1941 – 1954“
Der Vortrag von Anna Junge widmet sich den nachbarschaftlichen Beziehungen von deutschen Shoah-Überlebenden, die 1945 aus Konzentrationslagern und von Todesmärschen in ihre westdeutschen Heimatdörfer zurückkehrten. Auf dem Land waren sie zumeist die einzigen jüdischen Überlebenden im Ort und auf Hilfe angewiesen. In Spruchkammer- und Rückerstattungsverfahren traf sich die Nachbarschaft bald vor Gericht und verhandelte die Vergangenheit. Am Beispiel einiger Orte im Landkreis Marburg wird gezeigt, dass diejenigen Überlebenden, die langfristig bleiben wollten, große Anstrengungen unternahmen, um im Dorf akzeptiert zu werden und sich dauerhaft an die herrschenden Verhältnisse anpassten.
„Die Wissenschaftlerin Anna Junge behandelt mit ihrem Vortrag ein Thema, das bislang kaum betrachtet wurde. Und die Beispiele beschäftigen sich gerade mit Orten aus dem Landkreis. Wer von den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die NS-Zeit überlebt hatte, sah sich vor große Probleme gestellt. Was ist zum Beispiel mit dem Besitz passiert oder wie reagierten die Menschen vor Ort auf die Überlebenden, die in ihre Heimatorte zurückkehrten?“, erläutert Landrat Jens Womelsdorf.
„Wir hatten geglaubt, überall Entgegenkommen zu finden“, doch nun begann der Kampf um die Existenz“, sagte die Mardorfer Überlebende Ilse Flachsmann (1915 bis 2008) am 10. April 1948. „Dieses Beispiel zeigt, wie schwer es für die Überlebenden des Holocaust war, wieder in ihren Wohnorten anzukommen und anerkannt zu werden“, so Womelsdorf.
Klaus-Peter Friedrich von der Geschichtswerkstatt Marburg findet Thema und Vortrag wichtig: „Nach den grundlegenden Publikationen der Geschichtswerkstatt über die hiesige jüdische Geschichte in der NS-Zeit hat Anna Junge ihr Augenmerk nun auf die folgenden Jahre gerichtet. Ihre eingehenden Forschungen zur schwierigen Situation der jüdischen Holocaust-Überlebenden im Marburger Land fügen unserem Bild von den Zeitumständen gleich nach dem Ende des NS-Regimes neue und bedeutsame Aspekte hinzu, die uns auch 80 Jahre danach noch berühren.“
Foto: Siegfried Stern (rechts) sowie Sara Mendel (Mitte) und Martin Spier (links) überlebten den Holocaust. Sie kehrten in ihre Heimatorte zurück.
Für Siegfried Stern bedeutete dies die Rückkehr nach Amöneburg, wo er 1905 geboren wurde. Er starb 1999 in New York.
Das Foto der drei entstand 1945/1946 in Rauischholzhausen.
Das Bild stammt aus der Publikation von Annamaria Junge, „Niemand mehr da. Antisemitische Ausgrenzung und Verfolgung in Rauischholzhausen 1933–1942“.
Copyright: Fotosammlung Monica Spier, New York
Anna Junge hat ihr Dissertationsprojekt über „Unerwartete Nachbarschaft. Jüdisch-nichtjüdische Konfrontationen 1945 – 1948 im ländlichen Raum Hessens“ als Doktorandin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin verfolgt und inzwischen abgeschlossen.
Veranstalter: Geschichtswerkstatt Marburg e.V. in Kooperation mit dem Landkreis Marburg-Biedenkopf und Kulturelle Aktion Marburg – Strömungen e.V.
Die Kulturelle Aktion Marburg – Strömungen e.V. wird von der Stadt Marburg und vom Land Hessen über LAKS Hessen gefördert.